Es ist Frühsommer 1999 und du machst gerade dein Abitur. Du bist 19 und du weißt sehr genau, was du werden willst: Grafik-Designerin. Du kannst dir gar kein anderes Berufsbild vorstellen, das zu dir passen könnte, schließlich kannst du sehr gut zeichnen und hast ein gutes Gespür für Gestaltung. Gut, einige Jahre zuvor dachtest du noch, dass Medizin etwas für dich sein könnte. Aber davon bist du wieder abgekommen, denn mit einer 2 vor dem Komma und ohne Latinum ist das in den Neunzigern ein hoffnungsloses Unterfangen. Die anderen Alternativen (Biologie, Sport, Psychologie, Kunst) haben sich auf Grafik-Design eingedampft. Deine wilde Mischung aus tausend Interessen, Begeisterungsfähigkeit und genau so schneller Interessens-Abkühlung lässt dich sprunghaft erscheinen, und das honorieren deine Lehrer nicht besonders. Später wirst du erfahren, dass es eine Bezeichnung dafür gibt: Scanner-Persönlichkeit.
Grafik-Design scheint dir jetzt genau das Richtige. Und das beste: dort gibt es keinen Numerus Clausus! Dass einige Jahre später alles anders kommt, dass du dem Design den Rücken kehren und einen anderen Weg einschlagen wirst – undenkbar! Und das ist auch gut so, denn Grafik Design wird dir ein guter konzeptioneller Unterbau für deine weitere kreative Laufbahn sein. In einigen Jahren werden dir nämlich genau diese Fähigkeiten beim Schreiben deiner BWL-Arbeit helfen. Ja, genau, du wirst BWL studieren, zur Zeit dein allergrößter Albtraum. Und dann wirst du doch was ganz anderes: Texterin. Dein zweitgrößter Alptraum. Denn, hallo? Schreiben? Mit solchen Deutschnoten? Spoiler: Ja. Und alles wird gut ;-)
Das Digitale hat gerade Einzug in dein Leben gehalten. Deine Eltern haben sich anfangs noch geweigert, dieses Internet ins Haus zu lassen. Reicht in Computer nicht? Für was soll das Internet gut sein? Unaufhörlich schleppst du diese AOL-CDs mit 100 Stunden freiem Internet an, bis du sie endlich weichkochst. Was für ein Aufwand das damals war, das Internet zu installieren. Alleine schon die erste Emailadresse bei T-Online einzurichten, war eine Odyssee. Aber welch magischer Moment, als die erste E-Mail in deinem Postfach gelandet ist. Und vor knapp zwei Jahren hast du sogar deinen Internet-Surfschein bei der Telekom gemacht. Diese Urkunde habe ich übrigens immer noch. Du kannst es dir heute vielleicht noch nicht vorstellen, aber dieses Digitale wird dich ab jetzt dein ganzes weiteres Leben begleiten und sich mit all deinen Lebensbereichen verweben. Du wirst dich lange weigern, dir ein sogenanntes Smartphone anzulegen. Denn du wirst wissen, wohin das führen wird, wenn du so ein Ding erst mal hast. Und du sollst recht behalten: seit 2013 bin ich smartphonesüchtig :-D
In deiner Familie heißt es: wenn jemand nicht heiratet und Kinder bekommt, dann Judith. Für ein konventionelles Leben scheinst du irgendwie nicht gemacht. Als Mensch, der von Neugier getrieben seinen Platz sucht, wie ein Nomade im eigenen Leben umherzieht und am Datingmarkt nicht interessiert scheint (dieses ganze Wer-mit-wem-geht finde ich übrigens auch heute noch furchtbar), bist du vielen anderen suspekt. Während andere scheinbar schon seit Langem wissen, was sie arbeiten, wie und wo sie leben und wie ihre Kinder heißen werden, ist das alles für dich noch ein großes Fragezeichen. Und du findest das gut, denn das Gefühl, dass alles vorgegeben und in sichere Bahnen gelenkt ist, macht dich nervös. Das Gefühl, ein Abenteurer im eigenen, unsteten Leben zu sein, gibt dir hingegen das Gefühl von Freiheit.
Freiheit. Das Leben scheint für dich gerade grenzenlos. Theoretisch weißt du, dass alles irgendwann zu Ende geht. Aber es fühlt sich für dich nicht so an. Das Leben hat es sehr gut mit dir gemeint, du bist gesund und in deinem Umfeld sind alle Menschen einfach da, schon seit immer. Was du dir jetzt mit 19 Jahren nicht vorstellen kannst: dass keine 20 Jahre später geliebte Immer-da-Menschen, auch jüngere als du, nicht mehr Teil deines Lebens sein werden. Nicht wegen eines Streits oder Umzugs, sondern wegen etwas, an das du heute noch keinen einzigen Gedanken verschwendest: den Tod. Für diese Unbekümmertheit, die du als Teenager hast, für dieses Gefühl, dass das Leben und die Möglichkeiten unendlich sind, beneide ich dich. Heute beginne ich langsam zu verstehen, was die eigene Vergänglichkeit bedeutet. Ich habe das Gefühl, mittendrin zu stehen, zwischen den Generationen. Ich fühle mich jung, aber sehe, dass viele Stars, Sternchen, Prominente und Künstler jünger sind als ich (mir fällt unangenehm auf, wie in Klatschblättern immer das Alter angegeben wird: warum??) und meine ersten grauen Haare habe ich auch schon entdeckt (nicht zu verwechseln mit den Eisbär-Haaren, die du jetzt schon hast, die aber wahrscheinlich einfach zu deinem Blond dazugehören). Und zugleich erlebe ich gerade das pralle Leben: Ich bin dieses Jahr vierfache Tante geworden und mit meinen eigenen Kindern habe ich unsere Eltern zu siebenfachen Großeltern gemacht. Deine diffuse Vision, eine ungarischsprachige Tochter zu haben, ist übrigens in Erfüllung gegangen, László sei dank (gibt es einen ungarischeren Vornamen?).
Ich würde dir, die jetzt gerade in den Abi-Wirren steckt, so gerne sagen, dass eine Durchschnittsnote nichts über Neigungen und Talent aussagt, v. a. nicht bei jemanden, der so zu Extremen neigt wie du. Da kommt zwar ein mittelprächtiger Durchschnitt raus, aber irgendwie… nur rechnerisch. Und später im Berufsleben kannst du dich sowieso nur auf deine Stärken konzentrieren. Das ist halt in der Schule und Ausbildung noch nicht möglich. Augen zu und durch, Judith. Ich wünschte, du würdest dir nicht so viele Sorgen über deinen Weg machen. Du wirst guten Menschen begegnen, die dich unterstützen und voranbringen werden. Du kannst so gut zeichnen, höre bitte nicht auf damit. Und: Bitcoins. Sobald du davon hörst.
Liebe Grüße. Dein 20 Jahre älteres Ich.