Onlinekurse stehen derzeit hoch im Kurs und damit begegnet mir immer wieder dasselbe Bro-Marketing-Phänomen: Leute interessieren sich für einen Kurs und wollen wissen, wie viel Zeit sie dafür investieren sollten. Und dann heißt es: „Total easy, mit 1 oder 2 Stunden pro Woche machst du schon riesengroße Fortschritte!“ Oder: „Nur 10 Minuten/1 Stunde am Tag reichen komplett aus, um das Ziel zu erreichen.“

Ich zucke da immer zusammen, denn aus Erfahrung weiß ich, dass viele Dinge viel länger brauchen, als angekündigt. Gerade bei Anfängern oder wenn es im Kurs um Technik geht und wenn der Kurs viel Klarheit über die eigene Positionierung/Angebote voraussetzt. Und so wird aus den angepriesenen 10 Minuten/1 Stunde pro Tag schnell mal doppelt oder sogar fünfmal so viel!

Ich nenne das „die große Zeitlüge“ und ich finde dieses Verhalten… nun ja: uncool. Das ist für mich eine der schlimmsten Praktiken im Online-Business, überhaupt: Die Kunden über den Aufwand anzulügen und den Eindruck zu erwecken, ein Programm/Kurs sei schnell durchzuarbeiten.

Natürlich wollen wir alle schnell viel erreichen, ist ja klar! Ich glaube, das ist eine zutiefst menschliche Sehnsucht und das ist okay. Nur: genau hier setzen manche Onlinekurse an und machen unrealistische Versprechungen. Und ich glaube, dass wir genau hier ehrlicher mit uns selbst und mit unserer Zielgruppe sein sollten.

Wie entsteht die Zeitlüge in Online-Kursen?

Ich habe drei Ursachen der Zeitlüge ausgemacht:

1. Die Zeitlüge hilft, einen Onlinekurs besser zu verkaufen

Ich kann verstehen, dass viele Coaches den Aufwand in ihren Kursen herunterspielen. Denn sie wollen ja, dass die Leute ihre Kurse kaufen. Und natürlich klingt dann ein Kurs, der nur 2 Stunden Aufwand pro Woche mit sich bringt, attraktiver, als ein Kurs, für den wir 5 Stunden pro Woche investieren müssen. Da spielt auch ein Sprichwort rein, das wir im Online-Business häufig hören: „Sell them what they want, give them what they need.“ Kunden wollen oft schnelle Ergebnisse und haben hier manchmal auch unrealistische Erwartungen. Mir hat z. B. mal jemand folgende Frage gestellt: „Ich habe jetzt schon 3 Blogartikel geschrieben und immer noch keinen Neukunden über das Bloggen gewonnen!“ Sie war sichtlich überrascht, als ich ihr gesagt habe, dass sie frühestens ab dem 8. oder 10. Blogartikel erste Sichtbarkeits-Erfolge verzeichnen wird. Erst wenn wir uns intensiv mit einem Thema beschäftigen, merken wir oft, dass wir den Aufwand unterschätzt haben. Viele Coaches erzählen daher ihren potenziellen Kunden die Zeitlüge, um sie zum Kaufen zu motivieren. Und viele Kunden sind damit auch cool, weil sie erst im Kurs erkennen, dass ihre eigene Erwartungshaltung unrealistisch war. Trotz dieser Erkenntnis bleibt bei den Kunden oft etwas zurück: Der fade Beigeschmack, getäuscht worden zu sein.

2. Es ist schwer, den genauen Zeitaufwand zu beziffern, deshalb wird der geschätzte Minimalaufwand von Fortgeschrittenen veranschlagt

Ich könnte jetzt auch bei The Content Society sagen: nur eine oder zwei Stunden pro Woche und du kommst mit deinem Blog super voran. Aber die Sache ist die: Ein Blogartikel braucht so lange, wie er braucht, um zu entstehen. So pi mal Daumen dauert das je nach Thema und gerade am Anfang etwas länger, so ungefähr 4 bis 6 Stunden. Oder auch 10. Ich kenne Leute, die 20 Stunden lang an einem Blogartikel mit 1.000 Wörtern schreiben, weil sie mit ihrem Text hadern und ihn ständig umschreiben und anzweifeln. Dass dieser Aufwand mit jedem Blogartikel abnimmt und wir ab dem ca. 10 Blogartikel höchstens noch halb so lange an einem Blogartikel schreiben, glauben mir viele Leute oft gar nicht. Sie können sich das schlicht nicht vorstellen.

Und dann gibt es da ja auch noch das Technik-Kungfu: Beim Bloggen geht es nicht nur ums Schreiben, sondern auch um die technische Grundlage und um die eigene Webseite. Ein Blog-Experte kann einen Blog plus Design in unter einer Stunde zusammenklicken und mit dem Bloggen loslegen, andere brauchen Wochen, bis sie startbereit sind. Und dieses Technik-Kungfu gibt es in vielen Kursen, v. a. wenn es um das Thema Online-Business geht!

Ich kann den Zeitaufwand für meinen Kurs nicht pauschal angeben. Manchmal habe ich einen Blogartikel in 1 bis 2 Stunden heruntergeschrieben. Dieser Blogartikel hier, den du gerade liest, hat etwa 3 Stunden gebraucht. Wenn ich diese Zeit als Aufwand für meinen Kurs kommuniziere, wäre das nicht ganz falsch, denn für MICH und andere fortgeschrittene Bloggerinnen aus The Content Society mag das ja stimmen. Aber es wäre eben auch nicht korrekt, denn für Blog-Einsteiger ist es schlicht unmöglich, einen Blogartikel mit allem Drum und Dran in einer Stunde fertigzustellen.

3. Es werden nur die technischen Handgriffe gezählt

Ok, eine Angebotsseite oder einen epischen Blogartikel kann ich in unter einer Stunde runterschreiben. Aber nur, wenn ich ganz genau weiß, wo ich klicken und was ich schreiben muss. Und das bedeutet: Ich muss sehr viel Klarheit über mein Angebot, mein Wording, meine Positionierung, meine Haltung und meine Inhalte haben. Und genau DAS ist es, was im Business so viel Zeit braucht: Diese Klarheit zu erlangen! Das kann Wochen oder manchmal auch Monate dauern! Und diese Klarheit erlangen wir nur dadurch, dass wir ins Tun kommen. Die Dauer, bis wir diese Klarheit haben, können wir vorher nicht absehen, denn die ist sehr individuell und hängt z. B. von unserem aktuellen Business-Stand und von unserer Erfahrung ab.

Wie lange dauert es also, eine Angebotsseite oder einen Blogartikel zu schreiben? Das kommt darauf an, ob wir diese Phase der Klarheitsfindung (die wir zeitlich nicht definieren können) mit reinrechnen oder ob wir nur die technischen Handgriffe zählen. Um dieses Problem zu umgehen und um die Leute ins Machen zu bringen, schreiben wir am Anfang in The Content Society bzw. in The Blog Bang sehr einfache Blogartikel, die nicht viel strategische Klarheit erfordern, sondern die uns diese Klarheit Schritt für Schritt bringen: Das sind z. B. Monatsrückblicke und Was-ist-Artikel, also Blogartikel, die vergleichsweise schnell gehen und anhand derer wir die ganzen technischen Handgriffe lernen.

Warum die Zeitlüge niemandem hilft

Als Kursveranstalterinnen schaden wir uns mit solchen schöngerechneten Zeitlügen selbst! Denn angenommen, eine Person hat unseren Onlinekurs gekauft und startet total motiviert. Dann, in Woche 1, wird ihr schlagartig klar, dass unser Kurs viel mehr Aufwand bedeutet, als angekündigt. Und, ZACK, ist die Enttäuschung groß. In diesem Moment der Enttäuschung setzt ein psychologisches Phänomen namens „Buyer’s Remorse“ ein. Auf Deutsch heißt das „Kaufreue“: Der Kunde ist bzw. wird unsicher über seine getroffene Kaufentscheidung. Unsichere Kunden sind unzufriedene Kunden und machen ihrer Unzufriedenheit oft Luft. Und gerade, wenn wir einen Kurs haben, der von einer direkten Interaktion oder z. B. einer (Facebook-)Gruppe begleitet wird, bringen diese unsicheren und unzufriedenen Kunden Unruhe in das Ganze. Und selbst wenn die Kunden erkennen, dass ihre Erwartungshaltung an den Aufwand unrealistisch war, bleibt ein Gefühl der Irritation zurück. Und das belastet die Beziehung zum Kurs bzw. zur Kursveranstalterin.

Und, was noch viel schlimmer ist: Die Kunden übertragen ihre Erfahrung auf weitere Onlinekurse. Gebranntes Kind scheut das Feuer: Das nächste Mal, wenn sie einen Kurs kaufen wollen, verdoppeln sie in Gedanken den Zeitaufwand, der für einen Kurs angegeben wird, weil sie es früher schon erlebt haben, in dieser Hinsicht angelogen zu werden. Und das trifft dann ausgerechnet die ehrlichen Kurs-Veranstalter:innen, die realistische Zeitangaben machen.

Die Zeitlüge ist eine klassische Methode des moralisch problematischen Bro Marketings. Schon alleine, um uns mit den Bro Marketern nicht gemein zu machen, sollten wir die Zeitlüge in unserem Business nicht anwenden.

Was ist der Ausweg aus der Zeitlüge?

Ich glaube, ein kommunikatives Abrüsten bei der Aufwandsschätzung würde der ganzen Online-Business-Branche guttun. Und das bedeutet schlicht und einfach: Wir als Kurs-Veranstalter:innen sollten realistische Aufwandsschätzungen machen. Wenn wir uns unsicher sind, hilft eine Von-Bis-Angabe. Bei The Content Society sage ich z. B. dass ich mit einem Aufwand zwischen 4 und ca. 6 Stunden pro Woche rechne, am Anfang und mit wenig Blog-Erfahrung eher mehr.

Eine weitere Möglichkeit: Wir verzichten ganz auf Zeitangaben. Im Jahr 2018 haben Laszlo und ich uns einen Facebook-Werbeanzeigen-Kurs von Amanda Bond gekauft und wir waren begeistert von ihrer ehrlichen und offenen Art. Sie hat gleich gesagt: Du kaufst dir mit diesem Kurs viel Arbeit – aber diese viele Arbeit wird sich lohnen! Eine konkrete Zeitangabe hat sie damals nicht gemacht. So geht positives Erwartungsmanagement!

Aber gut, bis alle Online-Kurs-Anbieter realistische Zeitangaben machen, können wir bestimmt lange warten. Deshalb sollten wir als Kunden auch selbst aktiv werden und uns bei den Zeitangaben immer fragen: Ist diese Zeitangabe für mich selbst realistisch? Eine gesunde Skepsis kann hier Enttäuschungen vorbeugen und hilft, dass wir uns nicht blenden lassen. Ich z. B. frage Frauen, die sich für The Content Society interessieren und bei der Zeitfrage unsicher sind: „Was denkst du, wie lange du für einen Blogartikel brauchst?“ Denn ich kann diese Frage für die Personen nicht beantworten und ein pauschales „3 Stunden Aufwand pro Woche reichen für diesen Kurs“ als Antwort könnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Eines kann ich aus Erfahrung in meinem Blogkurs allerdings sagen: Egal was die Person als Aufwand schätzt – nach 5 bis 10 Blogartikeln hat sich diese Zeit etwa halbiert. So eine relative Zeitangabe kann, auch wenn sie nicht so plakativ ist, wie ein selbstbewusst dahingeschmettertes „3 Stunden Aufwand pro Woche!“, unser Ausweg aus der Zeitlüge im Online-Business sein.