In der KW 45/2019 habe ich einen Newsletter verschickt, der heute plötzlich wieder relevant geworden ist. Ich habe damals über graue Haare geschrieben. Jetzt im Februar 2021 hat Renate Schmidt die Blogparade „Grey is beautiful: Killen graue Haare das Business von Frauen?“ ausgerufen. Daher nehme ich meinen Newsletter von damals als Grundlage für diesen Blogartikel:

In einem anderen Leben (vor Corona) waren László und ich beim IKEA, nach Rollos schauen. Es war irgendwann unter der Woche und trotzdem war der IKEA rappelvoll. Mitten in dieser Menschenmenge sehe ich plötzlich eine besondere Frau. Ich stupse László an und flüstere: „schau mal“.

Die Frau hatte langes, silbernes Haar. Naturgraue Haare. Wie sie aus der Menschenmenge herausgestochen hat! Wie elegant und schön sie aussah! Ich war total fasziniert.

Ein paar Tage später sitze ich bei einem meiner regelmäßigen Freelancer-Jobs. Eine meiner beiden Gesprächspartnerinnen fragt mich: „Judith, warst du beim Frisör?“ Ich so: Ja :-D (vor 11 Tagen, 30 Zentimeter geschnitten). Im Gespräch kommt dann das Thema graue Haare auf. Ich sage: „Ich finde graue Haare schön und ich glaube, ich werde mir meine Haare nicht färben. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich einen strahlenden weißen/silbernen/grauen Haarschweif haben werde. Nur in der Übergangszeit weiß ich noch nicht, was ich machen werde. Vielleicht einfach gar nichts.“

Stille im Raum.

Denn meine beiden Gesprächspartnerinnen sind etwas älter als ich und färben sich ihre Haare.

Schon als Kind habe ich mich gefragt: Wo sind sie, die langen grauen Haare auf den Frauenköpfen?

Ich weiß noch, dass mir als Kind aufgefallen ist, dass sehr viele Frauen irgendwann kurze Haare hatten. Und ich weiß noch, wie überrascht ich war, als ich festgestellt habe, dass sehr viele ältere Frauen sogar die gleiche Frisur hatten. Modische Kurzhaarfrisur wird dieser Einheitslook genannt. Ich habe mich gefragt: Muss das so sein und ich weiß es nur noch nicht? Das sei so praktisch, hieß es, wenn ich mal nachgefragt habe. „Wäre es da nicht logisch, Mädchen auch die Haare zu schneiden? Das wäre doch bestimmt auch praktisch, oder?“ habe ich mich und andere gefragt, aber keine gute Antwort bekommen. Dann wiederum hieß es: Lange Haare seien nur was für junge Frauen, das stehe älteren Frauen nicht mehr. Ein Pferdeschwanz ist schon grenzwertig – und wenn, darf der bitte nicht zu hoch getragen werden, wenn überhaupt, dann im Nacken. Dann schon lieber einen Dutt (natürlich auch nicht zu hoch getragen). Aha… und schon sind wir beim nächsten Thema: Ich sehe nicht nur wenige ältere Frauen mit grauen Haaren. Sondern ich sehe auch wenige ältere Frauen mit LANGEN grauen Haaren. Warum ist das so? Ich fand das schon immer total schade und ich weiß noch sehr genau, dass mich das als junges Mädchen extrem ins Grübeln gebracht hat.

Warum tun wir das? Warum schneiden sich Frauen irgendwann ihre Mähne ab und warum färben sich so viele Frauen ihre Haare? Ja, jung aussehen, ich weiß schon. Aber ist es das wirklich wert, sich ständig Chemie auf den Kopf zu reiben und alle paar Wochen zum Friseur zu gehen? Und selbst wer sich zuhause selbst die Haare färbt: Das geht doch ins Geld!

Ich bin ein sehr logischer Typ und und bin jedem guten Argument gegenüber aufgeschlossen. Deshalb wusste ich schon immer, dass ich mir meine grauen Haare nicht wegfärben würde. Schließlich ist das Färben der Haare ein Kampf, den frau nicht gewinnen kann – es ist für mich also unlogisch, diesen Kampf überhaupt erst aufzunehmen. Es ist ein ständiges Anrennen gegen die Zeit. Wenn man nicht schnell genug ist, blitzen irgendwann die grauen Ansätze hervor und dann kann frau was erleben. Hat man erst mal mit dem Färben angefangen, wird es unglaublich schwer, wieder damit aufzuhören. Denn: Dann ist der Kontrast unglaublich groß, wenn die Haare so plötzlich wie mit dem Lineal gezogen grau nachwachsen und der Rest dann noch z. B. dunkelbraun gefärbt ist. Es erscheint mir maximal unlogisch, meine Zeit in das Kaschieren meines Älterwerdens zu investieren. Ich habe schon so viele Dinge im Kopf, da möchte ich doch nicht auch noch graue Haare davon bekommen, mir über meine grauen Haare Gedanken zu machen :-D

Ist das Haarefärben wirklich eine individuelle und freie Entscheidung?

Sowieso: Haare. Es heißt ja immer so schön: „Ob frau ihre Haare färbt oder nicht, ist ja zum Glück ihre eigene Entscheidung.“ Aber ist das wirklich so? Ist es wirklich das eigene ästhetische Empfinden, das viele Frauen dazu bringt, ihre Haare zu färben oder gibt es da nicht einen gewissen gesellschaftlichen Druck? Ein ungeschriebenes Gesetz, wonach graue Haare bei Männern sexy und ein Zeichen von Reife sind – bei Frauen hingegen ein Zeichen von… äh… ich kann es nicht diplomatisch formulieren. Ist es dann bei Frauen wirklich eine freie Entscheidung, die eigenen Haare zu färben? Ich sehe das so: Dass graue Haare bei Frauen angeblich unattraktiv seien, ist eine gesellschaftliche Konstruktion, die Frauen abwertet. Jede Frau, die sich diesem Druck nicht beugt und ihre Haare eben nicht färbt, nimmt diese Konstruktion ein kleines bisschen mehr auseinander und sorgt für ein bisschen mehr Geschlechtergerechtigkeit. Ich kann aber auch verstehen, wenn sich eine Frau ihre Haare färbt, denn nicht jede hat Lust darauf oder freie Kapazitäten, es mit dem Patriarchat aufzunehmen. Da ist Haarefärben halt doch oft einfacher. Ich würde einer Frau niemals vorhalten, dass sie sich ihre Haare färbt. Jede kämpft in dieser Gesellschaft ihren eigenen Kampf. Und meine Entscheidung ist gefallen: Ich werde niemals färben.

Die strahlend grauen Emanzonen: Sie werden immer mehr!

Jedes Mal wenn ich eine Frau mit (langen) weißen/grauen Haaren sehe, macht mein Herz einen kleinen Freudensprung. Wie z. B. damals im Jahr 2019 als ich eines Morgens zur Hochschule gefahren bin und in der Stuttgarter U7 diese eine besondere Frau gesehen hab. Sie hatte strahlend weiße lange Locken. Wow! Ich war wie hypnotisiert. Heute, in 2021, sieht die Situation schon etwas anders aus: Es gibt immer mehr von diesen Frauen. Auch in meinem Blogkurs sind viele Frauen, die ihre grauen Haare selbstbewusst tragen. Eine davon, Renate Schmidt, hat die Blogparade ins Leben gerufen, weshalb ich genau jetzt diesen Blogartikel verfasse. Es gibt sie also, die selbstbewussten Silberwölfinnen, die strahlend grauen Emanzonen, die weißhaarigen und weisen Frauen, die mit jedem Lebensjahr noch stärker in dieser Welt wirken. Frauen, die auffallen, die Energie haben und die etwas verändern. Sie sind meine Vorbilder, meine Leitsterne in dieser Umbruchphase, in der die Geschlechter die Machtverhältnisse neu verhandeln.

Jede dieser selbstbewussten Frauen macht es mir einfacher, zu meinen eigenen grauen Haaren zu stehen. Und ich weiß: eines Tages, in nicht mehr allzu ferner Zukunft, werde ich auch eine von ihnen sein.