Vor ein paar Tagen hat mir jemand gesagt: „Kein Wunder, dass ich so gut sei im Livegehen – ich hätte ja auch schließlich Talent dafür!“ Das war positiv gemeint, aber irgendwie hat mich dieser Kommentar nicht mehr losgelassen. Denn ich persönlich glaube nicht, dass ich ein Talent speziell fürs Livegehen habe. Oder fürs Zeichnen und Texten, fürs Auf-den-Händen-Laufen und Rückwärts-Einparken – alles Dinge, die ich sehr gut kann.
Aber ich glaube daran, dass man etwas, das man über hundert mal macht, irgendwann zwangsläufig sehr gut kann.
Stichwort Livegehen. Ich präsentiere das Beweisstück Nr. 1: ein Screenshot von meinem ersten Live-Video vom 25. Januar 2018:

Beleuchtung, Bildqualität und Ton waren eher mau. Ich musste ganz leise sprechen, denn ich habe dieses Video im Wohnzimmer aufgenommen und die Kids sind gerade erst eingeschlafen (wir haben keine Tür, die das Wohnzimmer vom Flur abtrennt). Das war noch nicht wirklich freies, entspanntes Sprechen. Und: ich war so unfassbar nervös, das glaubt mir keiner.
Und nun Beweisstück Nr. 2: Ein tagesaktueller Screenshot aus meinem Belive-Konto:

Seit Januar 2018 war ich dort also 162 mal live. Wenn ich noch die Live-Videos und Interviews, die ich direkt in Facebook und Instagram gemacht habe, hinzurechne, komme ich seit Januar 2018 bestimmt auf mindestens 250 Live-Videos.
Hier als Vergleich Beweisstück Nr. 3: ein Screenshot von einem meiner letzten Live-Videos vom 22. April 2019:

Mittlerweile habe ich aufgerüstet: ich habe einen Fotohintergrund, eine Webcam und ein Mikrofon. Sieht doch gleich viel besser aus.

Klingt zwar wie ein schlechter Kalenderspruch aber Übung macht den Meister: in Wasauchimmer und eben auch im Livegehen

Was mich an der Aussage, ich hätte ja Talent fürs Livegehen, stört, ist: es negiert meine monatelangen Anstrengungen, um mich konstant zu verbessern. Ich bin mindestens die ersten 100 Mal mit einer „Augen zu und durch“-Mentalität aus meiner Komfortzone getreten und habe zigmal gestottert, mich versprochen und verhaspelt. Bei einigen Videos ist plötzlich das Bild ausgefallen, dann mal der Ton oder das Internet war weg – das volle Herzkasper-Programm. Anfangs konnte ich mir meine eigenen Videos nicht anschauen, nachdem ich sie livegestellt habe, denn es war mir suuuper unangenehm. 
Im Laufe der Zeit habe ich nicht nur technisch aufgerüstet, sondern auch mental: erst letzte Woche habe ich im Rahmen meiner eigenen 100-Tage-Live-Challenge total überrascht festgestellt, dass ich gar nicht mehr nervös bin, wenn ich live gehe. Das war monatelang ein Riesenproblem für mich. Mittlerweile kann ich auch sehr gut improvisieren und ohne Skript frei sprechen. Hätte mir das jemand 2018 gesagt, ich hätte es für unmöglich gehalten. Aber mit Übung und Wille ist dann eben doch sehr viel möglich.
Dieses regelmäßige Hindurchgehen durch das Unangenehme, das ständige Heraustreten aus der eigenen Komfortzone und das Händeln aller Probleme, die auf dem Weg auftauchen, führen erst zur schrittweisen Verbesserung und zum souveränen Umgang mit einem Thema. Und viele sehen nur eine Momentaufnahme und interpretieren das dann als Talent.

Was ist Talent? Kann man Talent für ein spezifisches Thema haben?

Talent ist eine Begabung, ein angeborenes Potential. Es erlaubt den jeweiligen Menschen in bestimmten Bereichen sehr schnell Fortschritte zu erzielen und ein überdurchschnittliches Leistungsniveau zu erreichen.
Ich persönlich bin nicht von spezifischen Talenten wie z. B. einem Talent fürs Schachspielen oder fürs Turnen überzeugt. Ich glaube, Talent ist eher unspezifisch und manifestiert sich eben nur in spezifischen Dingen – wie z.B. im Marathonlaufen, Klavierspielen, Mathematik, Turnen, Malen, Schachspielen usw. Und dieses Unspezifische, das die Grundlage für Talent bildet, ist meiner Meinung nach z. B. ein großer Ehrgeiz, eine hohe intrinsische Motivation, Geschicklichkeit, Lust zum Lernen und auf die persönliche Weiterentwicklung, die ständige Suche nach Herausforderungen, wenig Angst zu scheitern und dann ein positiver Umgang mit Rückschlägen. Also alles Dinge, die z. B. Kinder von Haus aus mitbringen. Wenn bei Menschen mit diesen unspezifischen Eigenschaften eine Affinität für ein Thema (manche nennen das z. B. „in die Wiege gelegt bekommen“. Es ist ja kein Zufall, dass z. B. Musikereltern Kinder bekommen, die auch Interesse an Musik haben) und ggf. körperliche Vorzüge hinzukommen, entsteht meiner Meinung nach Talent. Und diese Menschen können in ihrem Affinitätsbereich (z.B. Musik oder Kunst) und körperlichen Vorzugsbereich (im Sport z. B. Schwimmen, Marathon, Ballet, Kraftsport usw. – da braucht man überall unterschiedliche Staturen) in so gut wie allem richtig gut werden. Affinität und körperliche Vorzüge kann ich nicht beeinflussen. Aber ich glaube: man kann die unspezifischen Talent-Voraussetzungen zu einem gewissen Grad üben: also z. B. wie man mit Rückschlägen umgeht, die eigene Geschicklichkeit trainieren, die Lust zum Lernen zu wecken, sich schrittweise an Herausforderungen heranzuwagen und sich daran zu gewöhnen, die Komfortzone erweitern.
Was mich dann zu meiner nächsten These führt: Ich glaube, viele Menschen verlernen im Laufe ihres Lebens ihre Talente bzw. verlieren durch Routine und Bequemlichkeit ihre Talentgrundlage. Im Umkehrschluss bedeutet das: wir können immer Talente entwickeln, ganz egal wie alt wir sind. Kein Talent ist keine Ausrede!

Meister werden mit der 10.000-Stunden-Regel?

Es gibt ja die 10.000-Stunden-Regel, die besagt, dass man mit der entsprechenden Übung quasi zwangsläufig sehr gut in etwas wird. Es gibt allerdings auch Kritik an dieser Regel. Ob die Zahl jetzt plusminus so stimmt oder nicht: ohne Übung wird das garantiert nix mit dem Expertenstatus (es muss ja nicht gleich der Weltmeister-Titel in irgendwas sein). Und selbst wer als Naturtalent daherkommt, hat im stillen Kämmerlein oft unglaublich lange trainiert oder ist schon in einem verwandten Bereich sehr gut. Ich z. B. konnte schon Schlittschuhlaufen als ich mit dem Inlineskaten angefangen habe. Tadaaa: Naturtalent – vermeintlich.
Ich glaube, eines der großen Probleme unserer Leistungsgesellschaft ist es, dass die Leute keine Zeit und Muse für das Üben und zum Fehlermachen haben. Heute muss alles schnell gehen und alleine schon die Aussicht auf die Rückschläge, die man am Anfang hinnehmen muss – egal was man sich vornimmt – entmutigt viele Menschen. In einer The-Winner-takes-it-all-Kultur passt das Scheitern oft nicht ins Bild – und der 2. Platz ist für viele schon ein gefühltes Scheitern. Und bevor man dann überhaupt das Risiko eingeht, lässt man es oft gleich lieber ganz. Zudem: was nicht ganz perfekt ist, erblickt in der Instagram-Ära aus Prinzip oft nicht das Licht der Welt.

Was (vermeintlich fehlendes) Talent mit Content-Ängst zu tun hat

Ich glaube, im Gefühl, nicht talentiert zu sein, liegt auch eine der Ursachen für Content-Ängst. Die Angst, öffentlich mit eigenen Werken – ob Texte, Bilder, (Live)Videos – und mit der eigenen Meinung – sichtbar zu werden, entsteht oft aus dem subjektiven Gefühl heraus, dass die eigene Kreation nicht richtig gut sei. Dabei ist das ein viel zu hoher Anspruch an die eigenen Werke: sie können am Anfang noch gar nicht richtig gut sein (selbst die besten Turner fallen x mal hin beim Üben). Perfektion bei den ersten Versuchen? Wir können schon froh sein, wenn die eigenen Anfängerwerke ganz okay sind. Wir orientieren uns an erfolgreichen und erfahrenen Vorbildern und können beim Versuch, ihnen nachzueifern nur scheitern. Der angepeilte Sprung von null auf Experte ist einfach zu groß (und, ehrlich gesagt, auch etwas vermessen). Und dann sagen sich viele Menschen: ich bin zu alt dafür, das ist nicht das Richtige für mich, ich habe dafür kein Talent. Wir sehen nicht die Arbeit und das x-fache Mikroscheitern, das wie ein Scheiternhaufen das Fundament des vermeintlich luftigleichten und funkelnden Talents der Experten, Meister und Überflieger bildet. Und das ist schade. Denn ich bin der Meinung: Talent kann man lernen.